moderner Theodolit-Nivellier-Tachymeterentwicklung, der automa
tische DatenfluB im informatorischen Bereich und der Stand der
Ausgleichungsrechnung als klassischer geodatischer Disziplin (g-
Inverse, Varianz-Kovarianz-Komponentenschatzung, Kalman-Fil
ter, statistische Tests) eine neue, dynamische Sprache.
In welchem inneren Zusammenhang steht die sog. moderne Geo
dasie zu unserem Geodaten Willem Baarda, der doch sozusagen
,,vom platten Land" kommt? Was hat ihn zu einem methodologi-
schen oder wissenschaftstheoretischen Zugang zur Geodasie ge-
führt?
Vielleicht sind es die fachlichen frühen Eindrücke, die auch in den
Bildern des expressionistischen, friesischen Malers Emil Nolde zum
Ausdruck kommen. Wir meinen zunachst die Baarda'schen Arbei-
ten zur Theorie der Beobachtung. Der Wissenschaftstheoretiker
Bridgman war ihm hierzu Leitbild: Nicht nur einheitenfreie Beo-
bachtungen sind W. Baarda geodatischer Ausgangspunkt, son-
dern gar dimensionslose Grollen, beispielsweise Winkel und
Streckenverhaltnisse. Der Aufbau einer „datumfreien" Geodasie
ist wohl sein tiefster geodatischer Beitrag.
Urn den Beitrag der dimensionslosen Grollen recht würdigen zu
können, ist zu wissen, daB wir Geodaten es so gewöhnt sind, von
Streckenmessungen, also MaBstab behafteten GröBen, und von
Koordinaten zu sprechen. Jedes geodatische StreckenmeBgerat
liefert doch Strecken in einem geodatischen Netz, jeder von einem
Geodaten gefütterte Computer Koordinaten. Doch worauf bezieht
sich der MaBstab eines elektronischen StreckenmeBgerates; ist der
MaBstab des MeBinstrumentes zeitlich konstant? Wie ist es gar
möglich, aus Strecken absolute Koordinaten herzuleiten? Derartige
Fragen steilte W. Baarda wohl als erster in aller Scharfe! Er lehrte
uns das Zweifeln an Computer-Koordinaten, denn sie stammen
nicht „vom lieben Gott", sondern sind Menschenwerk. In der
Sprache der modernen Physik kann W. Baarda als erster Eichtheo-
retiker angesprochen werden. Er fand sozusagen die geodatischen
Elementarteilchen durch seine einheitliche Feldtheorie, das Stu
dium der Invarianzeigenschaften geodatischer Beobachtungsglei-
chungen. Wenn heute jedem Geodaten es gelaufig ist, zu wissen,
daB Winkelnetze invariant gegenüber Translation, Rotation und
MaBstabsanderung sind, d.h. daB extern über diese dimensionsbil-
denden Freiheitsgrade zu verfügen ist, so vergessen wir allzu oft
den Erfinder derartig fundamental-geodatischen Gedankengutes,
W. Baarda. Geleitet von dem wissenschaftstheoretischen Gedan-
kengut der dimensionslosen Grollen entwarf W. Baarda seine mo
derne Netztheorie mit dem Hilfsmittel der komplexen Zahlen in zwei
Dimensionen und der Quaternionen in drei Dimensionen, der S-
invarianten GröSen (similarity transformation) und der S-Basis. Ich
behaupte, daB erst seit den epochemachenden Arbeiten von W.
Baarda geodatische Netze nach Genauigkeit und Zuverlassigkeit
einwandfrei beurteilt worden können. Die besondere Rolle der Da-
tumfestlegung spielt heute in allen Bereichen der Geodasie eine
fundamentale Rolle. Flöhepunkt der Grundlegung mit Hilfe dimen-
sionsloser Grollen sind die neuesten Beitrage W. Baardas über
Physikalische Geodasie, in denen Schweredifferenzverhaltnisse als
dimensionslose GröBen eingeführt werden.
Damit kein falscher Eindruck über den sog. Praxisbezug dieser Ar
beiten besteht, sollte gesagt werden, daB W. Baarda seit Beginn
seiner katastertechnisch motivierten Forschungsarbeiten seine
theoretischen Erkenntnisse in die Praxis, in Rechenprogramme,
umgesetzt hat. So verfügt das niederlandische Kataster über vor-
bildliche, von W. Baarda gepragte Datenverarbeitungssysteme.
Zu reden ist nun von einer anderen epochalen Erfindung W. Baar
das, der Kriterion-Matrix. Wir Geodaten sind es gewohnt, das Er-
gebnis unserer Arbeit in besonderen GenauigkeitsmaBen, der sog.
Varianz-Kovarianz-Matrix, von ausgleichungstechnisch bestimm-
ten GröBen, wie Lage- und Plöhenkoordinaten zusammenzufassen.
Beispielsweise besteht das Ausgleichungsproblem des US-ameri-
kanischen Netzes erster Ordnung in der Anpassung von mehr als
1 Mio. Beobachtungen an ein lineares Modell von Vi Mio. Unbe-
kannten. Die maBgebliche Varianz-Kovarianz-Matrix dreidimensio-
naler Netzkoordinaten besitzt in diesem Fall mehr als 1 Milliarde
unabhangige Elemente. Wonach sind diese Varianzen und Kova-
rianzen zu beurteilen? Wir Geodaten stellen unsere Ergebnisse be-
züglich der Genauigkeitssituation in sog. Fehlerellipsen oder
-ellipsoiden, dar, die von Netzpunkt zu Netzpunkt variieren. Ob ein
Netzpunkt gut oder schlecht bestimmt ist, drückt sich in der GröBe
der Fehlerellipse und in der Richtung/GröSe der Ellipsenachsen
aus. Natürlich verandern sich die Fehlerellipsen von Punkt zu
Punkt. Intuitiv beurteilen Geodaten die Fehlersituation der Punkt-
bestimmung in Netzen nach der Veranderlichkeit der lokalen
Fehlerellipsen. Urn der wie unser obiges Beispiel gezeigt hat
im allgemeinen unübersichtlichen Fehlersituation ein objektives
Beurteilungskriterium in die Hand zu geben, entwarf W. Baarda mit
seinen Mitarbeitern, von denen ich J. E. Alberda nennen möchte,
das neuartige Konzept der Kriterion-Matrix: Der tatsachlichen
Varianz-Kovarianz-Matrix eines Netzes wird eine idealisierte gegen-
übergestellt. Dem Postulat einer homogen-isotropen Fehlersitua
tion von Koordinatendifferenzen, d.h. relative Fehlerellipsen kreis-
förmiger Gestalt, mit dem Abstand der Netzpunkte wachsend, wird
die realistische vielleicht unerwünschte Fehlersituation ge-
genübergestellt. W. Baarda vollzieht den Netzentwurf durch An
passung der realen Fehlersituation an die ideale durch Lösung des
allgemeinen Eigenwertproblems der globalen Varianz-Kovarianz-
Matrix. Mit dem Konzept der Kriterion-Matrix haben W. Baarda
und Mitarbeiter aufbauend auf den Arbeiten des Baarda-
Vorgangers Professor Ir. J. M. Tienstra ein neues Gebiet der
Geodasie erschlossen: Netzdesign, Kriterion-Matrizen, beurteilen-
de Netzdiagnose.
Ein anderes Arbeitsgebiet W. Baardas, welches er ,,data snoop
ing" nennt, ist am popularsten. Es stellt gewissenmaBen die
Grundlage einer Netzanalyse auf Zuverlassigkeit dar: In unserem
früheren Beispiel des US-amerikanischen Netzes 1. Ordnung haben
wir die Beobachtungsfülle kennengelernt. W. Baarda stellt hier die
doch wohl entscheidende Frage nach fehlerhaften Beobachtun
gen. Auf der Basis eines genialen Entwurfes eines statistischen
Testes, einer besonderen Verknüpfung der statistischen Fehler 1
und 2. Art Details müssen hier leider unausgesprochen bleiben
gelingt es W. Baarda, die fehlerhaften Beobachtungen ,,Stück
für Stück" zu erkennen und auszusondern. In jedem geodatischen
Labor ist das von W. Baarda entworfene Testverfahren Standard-
software zur Aufdeckung geodatischer ,,AusreiBer", ein weltwei-
ter geodatischer Volltreffer. Zahlreiche Apostel der Baarda'schen
Schule haben insbesondere dieses Testverfahren zu ihrer Botschaft
gemacht.
Bei seinen Arbeiten über Kriterion-Matrizen bemerkte W. Baarda
sehr früh, daB Konzeptionen über charakteristische Funktionen
derartiger Matrizen fehlten. Das Studium derartiger charakteris-
tischer Funktionen wie sieht beispielsweise Langs- und Quer-
korrelation in einem Trilaterationsnetz, in einem Triangulationsnetz
oder in einem Höhennetz aus hat ein neues geodatisches Ar-
beitsfeld begründet, insbesondere die Theorie kontinuierlicher
Netze oder die Fourier-Analyse geodatischer Netze, wofür wir
neben der Delfter Schule sie fand das sog. logarithmische
Fehlerausbreitungsgesetz in Horizontalnetzen stellvertretend die
Kopenhagener Schule urn T. Krarup und die Grazer Schule urn P.
Meissl nennen mochten. Wesentliche Ergebnisse in schematischen
geodatischen und photogrammetrischen Netzen wurden erarbei-
tet. Ein Brückenschlag zur Kontinuumsmechanik und zur Techni-
schen Mechanik wurde gewagt: Spannungs-Dehnungsbeziehun-
gen wurden in geodatischen Netzen gefunden.
So wurde beispielsweise einem Streckennetz eine Materialeigen-
schaft von Stahl zugeordnet. Dank der Baarda'schen Beitrage zur
Deformationsanalyse geodatischer Netze wurden sensible Beo-
bachtungsplane entworfen, die Bodenbewegungen möglichst sig-
nifikant zu bestimmen gestatten. Wiederum ist es ein Baarda sches
Verdienst, auf das Datumsproblem bei der Analyse von Verschie-
bungsvektoren in sich verformenden geodatischen Netzen hinge-
wiesen zu haben.
In einem zentralen Bereich der Physikalischen Geodasie hat W.
Baarda in den sechziger Jahren Pionierleistungen vollbracht. Die
Rolle eines Bezugssystems bei der Darstellung des Schwerepoten-
tials, auch holonome Höhe genannt, erkennend, hat W. Baarda als
erster die Transformation des Schwerepotentials unter Translation,
Rotation und MaBstabsanderung mit Elementen nahe der Identitat
vollzogen und numerisch abgeschatzt. Insbesondere sind die
Rechenformeln zur Transformation des Zentrifugalpotentials und
des Gravitationspotentials in Kugelfunktionen klassisch geworden:
GewissermaBen kann W. Baarda als Geodat angesehen werden,
der den EinfluB der Polbewegung auf die Schwere gesehen hat, ein
höchst aktuelles Thema in der Gravimetrie unter dem Stichwort
Polgezeiten.
Leider müssen wir uns hier und heute beschranken, auf das groBe
Werk von W. Baarda nur bruchstückhaft hinzuweisen. Wollten wir
auch nur einigen Baarda'schen Forschungsthemen gerecht wer
den, müSten wir mehrere Symposien veranstalten! Unter den geo
datischen Wissenschaftlern rangiert W. Baarda mit an erster Stelle
des Zitiertwerdens, ein Indiz für den EinfluB des Baarda'schen
Schaffens.
Das Bild des Forschers W. Baarda ware ohne eine Würdigung sei
ner internationalen Tatigkeit unvollstandig. lm Sinne seiner inneren
Verpflichtung für das geliebte Fachgebiet arbeitete er in den fünf-
ziger Jahren als Generalsekretar der Fédération Internationale des
Geomètres (FIG) und wurde im Jahre 1959 zum Ehrenmitglied
ernannt.
Unermüdlich wirkte er in der Association Internationale de Géodé-
sie (AIG), zunachst als Mitglied der berühmten „Cassinis-Kommis-
20
NGT GEODESIA 83