Der Traum eines Geodaten
sion", als Mitglied der Kommissionen über „Education in Geode
sy" und „Continental Networks". Als Chairman der AIG-Studien-
gruppe über statistische Methoden beeinfluGte er Generationen
junger Geodaten, indem er sich bemühte, verschiedene Arbeits-
richtungen zusammenzubringen, in These und Antithese gegen-
überzustellen. Uns, als seine Stuttgarter Kollegen, hat W. Baarda
von Anbeginn seiner Delfter Lehr- und Forschungstatigkeit geför-
dert. Stets war er uns ein engagierter, anregender Gesprachs-
partner in alien geodatisch-photogrammetrischen Fachdisziplinen.
Doch neben der ureigenen Fachdisziplin beschaftigte sich W. Baar
da stets mit allgemeineren Fragestellungen, philosophischen, so-
ziologischen, erkenntnistheoretischen. Berühmt sind seine Bei-
trage über Lehren und Lernen, Studieprogramm und Forschung,
Rebellion der Studenten und Flochschulreform, seine Auseinander-
setzung mit Thesen von J. Flabermas.
Nun ist es bei akademischen Feiern wie der heutigen üblich neben
dem groGen akademischen Lehrer Idem Fürsprecher einer einheit-
lichen geodatischen Ausbildung) und dem genialen Forscher (dem
vorbildlichen Ingenieur bei der Umsetzung mathematisch-natur-
wissenschaftlicher Grundlagen in geodatische Technik) in der Per-
sönlichkeit W. Baarda auch den Menschen vorzustellen.
Und hier schlieGt sich der Kreis zu meinen Randbemerkungen am
Anfang. Sie, lieber Flerr Baarda, verströmen buchstablich intellek-
tuelles Engagement für Ihr geliebtes Fachgebiet und für Ihre Mit-
menschen. Wir alle, die Ihnen einmal begegnet sind, fühlen so. Bei
aller Scharfe bei der wissenschaftlichen Beobachtung helfen und
unterstützen Sie. So haben wir Stuttgarter Kollegen Sie kennen-
gelernt. Über Jahrzehnte hatten Sie engsten Kontakt mit meinem
Amtsvorganger Professor Dr.-lng. mult. Karl Ramsayer, der sich
heute leider wegen seiner schweren Erkrankung entschuldigen
laGt, mit unserem stuttgarter Photogrammeter Professor Dr. F.
Ackermann seit seinen frühen Delfter Jahren und spater, mit unse
rem Stuttgarter Kollegen Professor Dr. K. Linkwitz, mit dem Sie
viele gemeinsame Ingenieurinteressen verbinden, und mit mir, vor
allem auch mit unseren Institutsangehörigen, denen Sie haufig
einen wissenschaftlichen Aufenthalt in Delft ermöglichten. Und
umgekehrt haben Sie alles getan, Ihren Institutsmitarbeitern einen
Austausch mit uns hier in Stuttgart möglich zu machen.
Sie lebten uns den stets und notwendigerweise zweifelnden Men
schen vor. Das Ringen um die Wahrheit hat Sie gepragt, Sie uns
zum Vorbild werden lassen, vor allem auch vor dem Flintergrund Ih-
rer Familie. 1st es nicht für Sie eine besondere Freude und für uns
Stuttgarter eine Ehre, zu erfahren, daG heute bei unserer akade
mischen Feier nicht nur zahlreiche niederlandische und deutsche
Kollegen mit uns sind, sondern alle europaische Universitaten geo
datische Abordnungen entsandt haben. Als Ihre Jünger sind wir
voller Erwartung auf Ihre Stuttgarter Thesen, d.h. auf Ihren ,,Vor-
trag zur Promotion".
Ich danke Ihnen/ihnen.
dankwoorduitgesproken door prof. Baarda)
Eure Magnifizenz, verehrter Flerr Kollege Grafarend, meine Damen
und Flerren!
Die Verleihung des Ehrendoktorats durch den Senat der Universitat
Stuttgart erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit; Freude und
Dankbarkeit, weil hiermit die Arbeit meiner Delfter Gruppe eine ge
wisse Anerkennung erhalten hat. Sicher ist in diese Anerkennung
auch meine Frau eingeschlossen, die so viele Spannungen, die mit
der Forschung verbunden sind, miterlebt hat. Desto bedauerlicher
ist es, dass sie verhindert ist heute abend dabei zu sein.
Darf ich Ihnen, Flerr Rektor, darum meine grosse Dankbarkeit
aussprechen. Bitte übermitteln Sie meinen Dank allen, die den Vor-
schlag der Fakultat für Bauingenieur- und Vermessungswesen
unterstützt haben.
Ganz besonders danke ich Ihnen, verehrter Flerr Kollege Grafarend.
Es hat mich sehr berührt, dass gerade Sie die Aufgabe des Lauda
tors auf sich genommen haben. Sie wissen, wie hoch ich Ihre eige
nen Untersuchungen schatze, wenn sie auch leider dann und wann
über meine mathematische Einsicht hinausgehen. Für mich erhalt
diese Feier eine extra Dimension, weil Sie trotzdem einen gewissen
Beitrag meinerseits zur geschichtlichen Entwicklung der Geodasie
hervorheben wollten.
Meine Damen und Herren!
Bei der ersten Nachricht über die Verleihung des Ehrendoktorats
war es mir, als ob ich traumte. Das Traumen ist keine Seltenheit,
sicher nicht, wenn man in der Forschung tatig ist, wo sich so viele
Ideen in Nebeln verbergen. Allzu selten erlebt der Forscher, dass
ein Traum Wirklichkeit wird, und diesmal ist dann ein Traum Wirk-
lichkeit geworden. Und dies geschieht nun in einer Periode seines
Lebens, in der er begreift, dass viele Dinge, denen er nachstrebte,
in Nebel verhüllt bleiben werden, ja mehr noch, dass nachgestrebte
Ideen überholt zu sein scheinen durch anders fundierte Theorien
der jüngeren Generation.
lm Rückblick ist eigentlich die Traumwelt eines Forschers etwas
sehr merkwürdiges. Es ist kein Wunder, dass Überlappungen mit
den Traumwelten anderer Forscher zu den Seltenheiten gehören.
Es ist auch kein Wunder, dass Kontakte mit, und Anwendungen in
der Praxis einen grossen Extraeinsatz fordern, und sogar dann noch
meistens fruchtlos bleiben. Aber Traume beruhen auf Informatio-
nen, die man einst, gewöhnlich in den Anfangsjahren, von Lehr-
meistern und eindringlicher Literatur bekommen hat. In meinem
Falie waren die Lehrmeister vertraute Figuren, wie Tienstra, Scher-
merhorn und Vening Meinesz, und der niederlandische Mathemati-
ker und Statistiker D. van Dantzig. Durch Tienstra und Van Dantzig
kamen die Schriften aus der Geistesverwandtschaft des Wiener
Kreises hinzu, insbesondere von Von Mises und Reichenbach,
dann die Arbeiten von Bridgman und im geodatischen Bereich viele
grundlegende Schriften deutscher Geodaten, die Ihnen sicher be-
kannt sind.
Keine Theorie ohne Erfahrungstatsachen: In den vierziger Jahren
wurden ausgedehnte Punktfelder vermessen mit Triangulation,
Rückwartseinschnitten und Polygonzügen. Die auftretenden
Schlussfehler waren grosser, und ihr Charakter war unsystemati-
scher als erwartet. Das Transportmittel des Vermessungsinge-
nieurs war damals das Fahrrad. Die tagelangen Radfahrten boten
genug Gelegenheit, von einer Lösung zu traumen und zwanzig
Jahre lang blieb es ein Traum. Die Begegnung mit der Umwalzung
in der Interpretation der Wahrscheinlichkeitsrechnung in den dreis-
siger Jahren zeigte, wie schwierig es war einem Beobachtungsvek-
tor eine Wahrscheinlichkeitsverteilung zuzuordnen. Es wurde klar,
dass das nur möglich ist, wenn das Beobachtungsprogramm in
allen Punkten dasselbe ist, bei gleichen oder gleichwertigen Entfer-
nungen zwischen Stand- und Zielpunkten. Das verursachte eine
starke Einschrankung beim Problem des second order design
wie es heute genannt wird. Über diese Einschrankung steilte sich
sogar heraus, dass statistische Tests bei Polygonnetzen unbrauch-
bar waren, wenn nicht die systematischen Fehler der Strecken-
messung ausgeschaltet wurden. Fehler dieser Art konnten namlich
stochastisch nicht beschrieben werden, trotz der Versuche
Tienstras in diese Richtung. Es erwies sich in der Praxis auch als
unrealistisch, den stochastischen Charakter eines Koordinaten-
vektors zu beschreiben durch eine diagonale Kovarianzmatrix mit
gleichen Elementen, wie es damals und auch viel spater oft üblich
war. Es war klar, dass die geodatische Erkenntnis des Koordinat-
begriffes unvollstandig war, das „zero-order design problem" lag
noch unter dem Horizont. Ein weiteres Problem, mit dem wir in der
Praxis unsanft konfrontiert wurden, war der Interpretationsunter-
schied zwischen Gelandepunkten und -geraden einerseits und ma-
thematischen Punkten und Geraden andererseits.
So wuchs der Gedanke, dass einem Beobachtungsvektor nicht nur
ein mathematisches Modell der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu
zuordnen ist, sondern dass diese Kopplung sich auf ein Wahr-
scheinlichkeits- und ein Funktionsmodell beziehen muss, wobei das
letztere vielleicht doch die Hauptsache ist. Mathematische Grossen
sind namenlos, man ist daher für die Kopplung auf namenlose, di-
mensionslose, Grossen angewiesen. lm Beobachtungsraum sind
diese dimensionslosen, durch den Beobachtungsprozess bestimm-
ten, Grossen zusammengestellt aus dimensionsbehafteten Gros
sen, so wie etwa ein Entfernungsverhaltnis der Quotient zweier
Entfernungen ist. Wenn man nun das umgekehrte Verfahren auf
die einschlagigen dimensionslosen mathematischen Grossen an-
wendet, erhalt man eine operationelle Definition der benannten
mathematischen Grossen, wobei „operationell" im Sinne Bridg-
mans aufzufassen ist. So kann man allerlei Funktionen im mathe
matischen Modell definieren, wodurch auch die stochastische Be-
schreibung sinnvoll wird. Beispiele sind Entfernungen, Azimute,
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