Koordinaten, und, in der spater dazu gekommenen gravimetri-
schen Theorie, Schwerepotential, Masse und Massenzentrum der
Erde.
Es ist dann aber Voraussetzung, dass das mathematische Funk-
tionsmodell in sich geschlossen ist. So wurde dann in den sechzi-
ger Jahren die Lösung aller frühreren Schwierigkeiten gefunden,
indem das mathematische Funktionsmodell als eine euklidische
Geometrie der Ebene aus den Begriffen Winkel und Entfernungs-
verhaltnis aufgebaut wurde. Diese Begriffe sind komplementar und
bilden die Komponenten einer komplexen Zahl. So wurde die
„Polygontheorie in der komplexen Ebene" geboren und seitdem
überraschenderweise als wichtigster Rechenapparat in der nieder-
landischen Praxis gebraucht. Es muss dabei bemerkt werden, dass
dieser Erfolg in nicht geringem Masse den guten Eigenschaften der
modernen Entfernungsmesser zu verdanken ist, und dass der Auf-
schwung der Computer dabei sehr wesentlich war. Ich muss hier
die grosse und oft grundlegende Arbeit meiner Mitarbeiter erwah-
nen, die sie beim Aufbau und Ausbau des benötigten Software-
Systems leisteten.
Ein böser Traum, sogar ein Alptraum war die Kontrolle bei der geo-
datischen Arbeit. Von jeher war dies ein wichtiges Problem des
Vermessungsingenieurs. Wimmer hat hierüber 1928 ein hiibsches
Büchlein geschrieben. Aber Systematik und Quantifizierung fehl-
ten, wenn auch Reicheneder 1941 einen ersten Versuch machte,
dessen Fassung jedoch leider keine Verallgemeinerung zuliess. Die
Aufnahme der groben Fehler in die Modellbeschreibung, zusam-
men mit dem tatsachlichen Gebrauch der Gütefunktion statisti-
scher Tests, führte schliesslich zu einer hantierbaren Quantifizie
rung des Kontrollproblems und zwar mit weitgehender Generalisie-
rungsmöglichkeit. Es war dabei wesentlich, dass grobe Mess- und
Rechenfehler in derselben Weise wie Konstruktionsfehler des ma-
thematischen Modells behandelt werden konnten. Als Unterteil der
Problematik solcher Modellfehler können Deformationsprobleme
betrachtet werden. Es freut mich, erwahnen zu können, dass an
dieser Universitat Professor Linkwitz der entwickelten Methodik
grosse Aufmerksamkeit gewidmet hat, und dass in der Gruppe von
Professor Ackermann eine umfassende Anwendung davon mit
weiterem methodischen Ausbau verbunden wurde. Diese Ent-
wicklungen kennzeichnen das wachsende Interesse für die allge-
meine Testtheorie, wobei Namen wie Pelzer und Koch nicht uner-
wahnt bleiben dürfen.
Die auch für die Testtheorie notwendige operationelle Beschrei-
bung des Koordinatbegriffes führte zur Konstruktion künstlicher
Kovarianzmatrizen für Koordinaten, und zwar Kovarianzmatrizen,
die als Übersetzung der Gebraucherwünsche dienen konnten. Da-
her stammt die Bezeichnung Kriteriummatrizen, mit der Absicht
Kriterien für die Kovarianzmatrizen aus dem first-order design von
Netzen darzustellen. Die Verwirklichung dieser Idee musste lange
Zeit ein Traum bleiben, aber als sie realisiert wurde, geriet die Ent-
wicklung in eine Stromschnelle. Es ist unbestreitbar, Professor
Grafarend, dass Ihre Arbeit dieser Entwicklung einen Stempel auf-
gedrückt hat. Sie werden es mir nicht übelnehmen, dass ich in
diesem Zusammenhang sicher auch den leider zu früh verstorbenen
Professor Meissl aus Graz und die danische Schule um Krarup
nenne. lm Rückblick auf alle in unserer AIG-Studiengruppe geführ-
ten Diskussionen habe ich doch das Gefühl, dass noch keine Über-
einstimmung über alle Elemente dieser Problematik besteht; das
gilt sicher für die so notwendige Einfachheit in der Formulierung für
die Anwendung in der Praxis. Aber ich vermute stark, dass das
Wesen der Taylor-Karman-Struktur einen wichtigen Beitrag zur
Lösung der noch bestehenden Unklarheiten liefern kann.
So wurde der Fahrradtraum denn endlich doch verwirklicht. Glück-
licherweise nicht vollstandig, denn jede Generation entdeckt wie
der neue Gesichtspunkte der Forschung. Dass die Realisierung sich
nur auf den zweidimensionellen Fall bezog war eine der Beschran-
kungen.
Um 1960 kam dann der echte Geodatentraum: eine Theorie zu ent-
werfen, die die ganze Geodasie umfassen könnte. Bei einem
solchen Bestreben ist aber Vorsicht geboten, damit man nicht zu
grosse Ansprüche erhebt. So denke man an die Pionierarbeit von
Professor Linkwitz auf dem Grenzgebiet zwischen Geodasie und
Bauwesen, und an die vielen juristischen und planerischen Tatig-
keiten des Vermessungsingenieurs, ebenso an die Photogramme-
trie, die einerseits, nach einer neulich gehaltenen logischen Darle-
gung von Professor Ackermann, sehr gut zur Geodasie gehören
könnte, aber andererseits nach einer ebenso logischen Argumenta
tion sich dem Fassungsvermögen des Geodaten entzieht. Be-
schranken wir uns darum auf die Begriffsandeutung „geometri
sche und physikalische Geodasie", eine Andeutung mit der meine
Generation aufgewachsen ist und die ihr Denken bestimmt hat.
Noch in dem berühmten Buch „Mathematical Geodesy" von
Flotine kann die Trennung dieser Gebiete erkannt werden, auch
wenn dem Buch die grundlegende Theorie Marussi's aus den vier-
ziger Jahren voranging. Dufour, beim Luzern-Kongress im Jahre
1967, und Bjerhammar, beim Moskau-Kongress im Jahre 1971,
haben ein Bild einer ungeteilten Theorie skizziert. Sie, Professor
Grafarend, kamen beim Symposium in Florenz 1972 mit Ihrer
„Unified Theory of Geodesy", Krarup veröffentlichte 1973 seine
Gedanken über „Integrated Geodesy", Krarup und Moritz ent
wickelten eine Rechenmethodik mit ihrer Kollokationstheorie, Wolf
gab eine kritische Analyse und verband Gegenwart und Ver-
gangenheit. Ein Zeitalter schien abgeschlossen, der Neubeginn war
vielversprechend.
Viel, aber noch nicht alles, von diesen Traumen ist praktisch reali-
sierbar geworden. Es nahm einen gewisse Zeit in Anspruch, zum
Glück für meine Generation, die dadurch die Möglichkeit hatte, ihre
Gedankenwelt umzuschalten. Sie, Professor Grafarend, sind dabei
einer unserer wichtigsten Lehrer, durch die viele und grundlegende
Arbeit, die Sie für diese neue geodatische Denkweise verrichtet
haben. Was mich selbst betrifft muss ich leider hinzufügen, dass
Ihre sehr weit realisierten Ideen meine Traumwelt aus dem Jahre
1960 in nicht unbetrachtlichem Masse zerstört haben. Die Frage ist
dann, hat es einen Sinn weiter zu trëumen, wenn die Konstruktion
einer neuen Geodasie schon sichtbar wird?
Und dennoch waren sowohl Tienstra als auch Vening Meinesz der
Meinung, dass man die intuitiven Gedankengange, die sich ge-
bildet haben, niemals loslassen darf, und dass es darum manchmal
notwendig ist sich zeitweilig von ausseren Einflüssen abzuschlies-
sen.
So haben sich die Gedanken aus dem Jahre 1960, dank des Bei-
trages meines ehemaligen Schülers Quee nun mit Hilfe der Quater-
nionenalgebra zu einer dreidimensionalen Polygontheorie ent-
wickelt. Sie ist, ebenso wie die zweidimensionale Theorie, auf Be-
dingungsgleichungen ausgerichtet, teilweise als Antwort einer mir
von Hotine gestellten Frage. Es ist wieder eine Divisionsalgebra; die
Division von Vektoren ist möglich, und wesentlich ist, dass keine
Nullteiler vorkommen. Es ist auch eine geometrische Theorie, denn
für Quaternionen gibt es keine Funktionstheorie.
Für die physikalische oder gravimetrische Theorie musste darum
zurückgegriffen werden auf die übrigbleibende für die Geodasie
brauchbare Divisionsalgebra, das heisst, die Algebra der reellen
Zahlen.
Die so entstandene Theorie, eine Art Umschreibung des bekannten
Buches von Fieiskanen und Moritz, zeigte die Möglichkeit ihrer Ver-
bindung mit der geometrischen Quaternionentheorie. Man erhalt
so eine Lösung in zwei Stufen, dieselbe Idee, die Hein neulich für
die „Integrated Geodesy" vorgeschlagen hat, aber naturgemass
anders und mehr gebunden an die klassische Fassung.
Die Beschreibung der gegenseitigen Lage von Punkten und des
Schwerkraftfeldes durch die von uns so genannten „Formelemen-
te" bestimmt die Zahl der Freiheitsgrade für die Wahl eines Refe-
renzsystems:
4 für die geometrische Theorie der komplexen Zahlen,
7 für die geometrische Quaternionentheorie und
7 1 für die Quaternionentheorie verbunden mit der gravimetri-
schen Theorie.
Das letztere ist noch eine Vermutung, ebenso wie der Gedanke,
dass geodatische Satelliten- und VLBI-techniken nur Formele-
mente für die gegenseitige Lagebestimmung terrestrischer Punkte
zulassen. Das Gesamtproblem ist schwierig, denn es beinhaltet
eine Neuinterpretation der astronomischen Theorie der Bahn-
berechnung, und besonders eine eingehende Untersuchung der
Definitionsscharfe der vielen auftretenden Koordinatensysteme.
Ohne die Unterstützung Ihrer tiefgehenden Kenntnisse auf diesen
Gebieten, lieber Herr Grafarend, wird dieses Problem wohl nicht
bald entwirrt werden können.
Ob mir noch genügend Zeit gegeben sein wird um hieran beizu-
tragen, ist ein persönliches Problem anderer Ordnung. Das gilt
sicher für die neue Methode der Inertialnavigation, wenn auch hier
die genannten Fragen noch eindringlicher sind.
Das so beschriebene Gedankenspiel weist nochmals auf die unver-
meidliche Verknüpfung geodatischer Probleme hin, „integration"
ist also bestimmt unerlasslich. Aber für mich bleibt die Frage noch
offen, auf welcher Grundlage das geschehen muss. In dieser Hin-
sicht ist es interessant, dass dimensionslose zusammengestellte
Grossen aus der Quaternionen- und der gravimetrischen Theorie in
der Satellitentheorie wiedererkannt werden können. Der Gedanke,
dass hierbei Schwerkraftverhëltnisse neben Winkeln und Entfer-
nungsverhaltnissen wesentlich sind, wird unterstützt durch den
Aufbau der Newtonschen Dynamik ausgehend von Beschleu-
nigungsverhaltnissen, wie beschrieben im schonen Buch von
Jeffreys, „Scientific Inference". Das Schwerkraftverhaltnis ist wie
der verantwortlich für den schon genannten Extrafreiheitsgrad bei
der Kopplung der geometrischen mit der gravimetrischen Theorie.
Es ist interessant, dass die erwëhnten dimensionslosen Grossen
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NGT GEODESIA 83